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Prof. Dr. Hans Lösener Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik Postanschrift: Im Neuenheimer Feld 561 69120 Heidelberg Postfach 104240 69032 Heidelberg Arbeitsgebiete: Literaturdidaktik, Sprach- und Literaturtheorie

Warum der Literaturunterricht eine Anthropologie der Sprache braucht

Sprachtheorie erscheint in didaktischen Diskussionen meist als ein Gegenstand, auf den lediglich verwiesen wird, der aber keiner weiteren Diskussion mehr bedarf. Die sprachtheoretischen Fragen sind offensichtlich immer schon geklärt, wenn Probleme des Unterrichts reflektiert werden. Dabei sind es auch hier gerade die Gewissheiten, die sich dem Denken in den Weg stellen, z. B. die Vorstellung, dass die Sprache aus Zeichen besteht und ihre Funktionsweise über deren Gebrauch erklärt werden kann. Der vorliegende Artikel weist auf die Aktualität Nietzsches  hin, der in „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ die unausweichliche Deanthropologisierung der Sprache aus dem Blickwinkel des Zeichens durchgespielt hat ,und weist die Folgen des Zeichendenkens in Musteraufgabenstellungen der Bildungsstandards nach.

Hans Lösener (2015): Der Rhythmus und die Fallen des Zeichens. Warum der Literaturunterricht eine Anthropologie der Sprache braucht. In: Interval(le)s: Réinventer le rythme / Den Rhythmus neu denken. Herausgegeben von Vera Viehöver und Bruno Dupont, H. 7, (2015), S. 1–22.

Sprachtheorie und Literaturunterricht

Es gibt wohl kaum ein Feld, das die Relevanz der Sprachtheorie für die sprachliche Praxis so unmittelbar zu Tage treten lässt wie der Deutschunterricht. Jedes Lernziel, jede methodisch-didaktische Entscheidung, jede Unterrichtsstunde und jeder Arbeitsauftrag beruhen auf meist implizit bleibenden sprachtheoretischen Prämissen, die bestimmte Denkwege, Arbeitsformen und Zielperspektiven ermöglichen oder aber ausschließen. Dass diese Prämissen innerhalb der didaktischen Reflexion kaum je einmal problematisiert werden, ist auch einer der Gründe dafür, dass an einigen Unterrichtspraktiken hartnäckig festgehalten wird, obwohl sich ihre didaktische Fragwürdigkeit längst erwiesen hat. Ein besonders anschauliches Beispiel für ein solches didaktisches Fossil ist die nach wie vor in allen Schulformen anzutreffende Form-Inhalt-Interpretation bei der Arbeit mit Gedichten. Der unten abrufbare Aufsatz ist 2009 in OBST (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie) erschienen und analyisert die sprachtheoretischen Annahmen und die didaktischen Diskurse, auf denen diese Interpretationspraxis beruht, und zeigt, wie Alternativen zur Form-Inhalt-Analyse entwickelt werden können. Ein didaktisches Gesamtkonzept für die Arbeit mit Gedichten jenseits der Form-Inhalt-Logik findet sich in dem gemeinsam mit Ulrike Siebauer von der Universität Regensburg verfassten Praxisband „hochform@lyrik“ (2011) .

Hans Lösener, 2012

Hans Lösener (2009) Gedichtanalyse als didaktisches Problem. Gibt es eine Alternative zur Form-Inhalt-Interpretation?

Die Origo der Subjektivität: ich, jetzt, hier bei Bühler und Benveniste

Das Werk von Emile Benveniste (1902-1976) ist noch immer beinahe unbekannt im deutschsprachigen Raum. Noch immer ist der zweite Band der Problèmes de linguistique générale nicht übersetzt, während die gravierenden Übersetzungsfehler des ersten Bandes offensichtlich unbemerkt geblieben sind. Die Tatsache, dass der bedeutendste französische Linguist des 20. Jh in Deutschland so gut wie nicht zur Kenntnis genommen wird, könnte als Indiz für eine bestimmte Tendenz innerhalb der Sprachwissenschaft aufgefasst werden. Wenn man bedenkt, dass Benveniste die Grundlagen für eine Linguistik der Rede geschaffen hat, in der erstmals die menschliche Subjektivität von der sprachlichen Funktionsweise her beschrieben und untersucht wird, was weder der Sprechakttheorie noch der Gesprächsanalyse gelungen ist, dann spricht die fehlende Rezeption seiner Arbeiten in Deutschland für eine erkenntnistheoretische Barriere gegenüber den Fragen, denen sich Benveniste stellt: Was ist Subjektivität in der Sprache? Wie artikuliert sie sich? Welchen Bezug gibt es zwischen Zeitlichkeit und Sprache? Wie funktionieren die Wörter „ich“, „jetzt“, „hier“? Welche Bezüge gibt es zwischen Sprache, Rede und Sinn? etc. Über die Gründe für das Vorhandensein dieser Barriere kann man nur spekulieren. Vielleicht liegt es an einer unzureichenden Überwindung der strukturalistischen Tradition oder an einer postmodernen Faszination für die Eliminierung des Subjekts in der Sprache. Vielleicht ist der Grund aber auch einfach die nach wie vor überwiegend unkritische Rezeption der Origo-Theorie des Psychologen Karl Bühler, der – so mag es auf den ersten Blick scheinen – auch eine Theorie der Subjektivität in der Sprache entwickelt hat. Tatsächlich besteht ein diametraler Gegensatz zwischen dem Ansatz von Bühler und von Benveniste. Denn Bühlers Konzeption setzt die Subjektivität als psychologische Entität bereits voraus, während Benveniste zeigt, wie sie sich durch die Sprachtätigkeit immer wieder neu konstituiert. Bühler setzt also immer schon voraus, was Benveniste als Teil der Funktionsweise der Rede entdecken und beschreiben kann. Der folgende Aufsatz geht diesem fundamentalen Unterschied nach und zeigt, welche Konsequenzen für die Erklärung der Funktionsweise der Wörter „ich“, „jetzt“ und „hier“ sich daraus ergeben.

Hans Lösener (2010): Die Origo der Subjektivität: ich, jetzt, hier bei Bühler und Benveniste

Zweimal Sprache: Weisgerber und Humboldt

Jede Sprachtheorie hat eine politische Seite. Denn das, was über die Sprache gesagt wird, impliziert auch dort, wo es in einer Terminologie scheinbar objektiver Wissenschaftlichkeit geschieht, notwendigerweise eine Konzeption der Gesellschaft und das heißt eine politische Ethik. Das zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit in der Humboldt-Rezeption von Leo Weisgerber (1899-1985), der seiner Konzeption der Sprache bis in die Begrifflichkeiten hinein den Anstrich einer traditionsbewussten Fortführung des Humboldt’schen Sprachdenkens gegeben, tatsächlich aber eine Position vertreten hat, die sich von dem Humboldt’schen Projekt einer Anthropologie der Sprache entschieden abkehrt. Weisgerber hat mit einer an Humboldt gemahnenden Begrifflichkeit eine Theorie der Muttersprachlichkeit entwickelt, die die umfassende kulturelle und psychologische Abhängigkeit des einzelnen Sprechers von der Muttersprache betont. Die Muttersprache wird bei Weisgerber zu einer Schicksalsmacht erklärt, dem der Sprecher in allen seinen Lebensäußerungen unterworfen bleibt. 1929 schreibt er in Muttersprache und Geistesbildung:

„Das also erscheint mir als das Entscheidende: der Mensch, der in eine Sprache hineinwächst, steht für die Dauer seines Lebens unter dem Bann seiner Muttersprache, sie ist wirklich die Sprache, die für ihn denkt […] In diesem Sinne ist die Muttersprache Schicksal für den einzelnen, die Sprache des Volkes Schicksalsmacht für die Gemeinschaft.“ (Weisgerber 1929, 164).

Weisgerber formuliert damit schon vor 1933 eine Sprachtheorie, die die sprach- und bildungspolitischen Ziele des Dritten Reiches zu legitimieren vermag. Möglich wird Weisgerbers deterministischer Sprachbegriff über eine folgenreiche Verkürzung der Humboldt’schen Sprachidee durch die Gleichsetzung zwischen den Begriffen „Sprache“ und „Einzelsprache“. Die Einzelsprache, genauer gesagt, die Muttersprache ist bei Weisgerber die ganze Sprache, es gibt nichts außer ihr und alles, Nation, Kultur, Denken und Dichtung hängen von ihr ab.

Im Gegensatz dazu versteht Humboldt unter „Sprache“ einen unaufhörlichen geschichtlichen Prozess zwischen den Sprechern einer Sprache, in dem sich sowohl Individualität als auch Kollektivität (und zwar in einer ständigen Wechselwirkung) ausbilden. Man muss diese Wechselwirkung denken, wenn man verstehen will, was Humboldt meint, wenn er schreibt, dass die Sprache

„auch verbindet, indem sie vereinzelt, und in die Hülle des individuellsten Ausdrucks die Möglichkeit allgemeinen Verständnisses einschließt (Humboldt, Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaus 1827/29: 160, §11).

Voraussetzung für ein solches Denken ist die Erkenntnis, dass die Sprache nicht auf die Einzelsprache reduziert werden darf und dass der Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur, Sprache und Subjekt unerklärbar bleibt, wenn man nicht erkennt, dass sich Sprache empirisch immer in der alltäglichen Unvorhersehbarkeit der konkreten Rede ereignet. Auf diese Tatsache bezieht sich der berühmte, einzige kursiv gesetzte Satz in Humboldt Schrift Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbau:

Die Sprache liegt nur in der verbundenen Rede, Grammatik und Wörterbuch sind kaum ihrem todten Gerippe vergleichbar. (Humboldt 1827/29: 186, § 32)

Humboldts Sprachbegriff ist gerade in einer Gesellschaft, die nur bestehen kann, wenn sie die in ihr anzutreffende kulturelle Vielfalt ermöglicht und fördert, von zentraler Bedeutung, weil mit ihm ein Sprachdenken beginnt, das die Verbindung von Gemeinsamkeit und Vielfalt in der Sprache zu erkennen vermag. Und weil durch sie erklärbar wird, warum sprachliche Bildung das Herzstück einer demokratischen Kultur darstellt. Denn die Verkürzungen Weisgerbers, durch einen Sprachbegriff, der die Sprache nur als langue, nicht aber als parole denkt, der nur Grammatik und Wörterbuch kennt, nicht aber die unendliche Vielfalt des tatsächlichen Sprechens und damit die unerschöpflichen Möglichkeiten der sprachlichen Individuation, sind noch immer gegenwärtig.

Hans Lösener (2000): Zweimal Sprache – Weisgerber und Humboldt

 

Saussure und die Geschichtlichkeit der Sprache

Der folgende Aufsatz geht zurück auf einen Vortrag auf dem Germanistentag 1997 in Bonn, der unter dem Thema „Autorität der Wissenschaften von Sprache, Medien und Literatur – Autorität in den Wissenschaften“ stand. Der Text arbeitet Aspekte von Saussures Sprachtheorie heraus, die in der strukturalistischen Rezeption Saussures immer wieder ausgeblendet wurden und werden. Noch heute hat das, was man in vielen Einführungen in die Linguistik über Saussures Auffassung lesen kann, kaum etwas mit seinem Sprachdenken zu tun. In Deutschland war es Ludwig Jäger, der sich als erster für eine Annäherung an den Saussure der Manuskripte eingesetzt hat. 1975, im gleichen Jahr, in dem Jägers Dissertation erscheint, hat auch Henri Meschonnic in Le signe et le poème auf die Notwendigkeit einer differenzierten Saussure-Rezeption hingewiesen.

Hans Lösener (2000): Saussure und die Geschichtlichkeit der Sprache