Kritik des Zeichens

Mit seiner 1975 erschienenen Untersuchung Le signe et le poème hat Henri Meschonnic die bislang wohl gründlichste Kritik des Zeichenprinzips im abendländischen Denken vorgelegt. In unterschiedlichen Einzeluntersuchungen geht Meschonnic der Wirksamkeit semiotischer Sprachvorstellungen in der Sprachphilosophie, der Psychoanalyse, im Marxismus, der Phänomenologie und der Sprachwissenschaft nach und erkundet die Zusammenhänge der Dualismen von Form und Inhalt, Signifikant und Signifikat, Körper und Geist, Sprache und Welt in den verschiedenen Theorien. Diese Trennungen, die so gut zu funktionieren scheinen und so alt und vertraut sind, dass man sie für die Natur der Dinge halten könnte, versagen bei einer ebenso alten Praxis der Sprache, der Dichtung, die bei Meschonnic zum Ausgangspunkt einer Kritik des Zeichens wird. Im Gedicht ist keine Trennung von Form und Inhalt möglich, da die Funktionsweise des Poetischen weder auf Formales noch auf Inhaltliches zurückgeführt werden kann. Wäre das Gedicht eine Form (Metrum, Reim, Strophe, Stilfiguren), so könnten Computer Lyrik schreiben, wäre es ein Inhalt (Mond, Liebesschmerz, Einsamkeit), so wäre eine Inhaltsangabe selbst ein Gedicht. In Critique du rythme schreibt Meschonnic dazu: „Die Paraphrase ist der Schwachpunkt des Zeichens.“ („La paraphrase est la faiblesse du signe“, 1982, 63). Das Gedicht ist der notwendige Zusammenhang von etwas, das sich weder als Form noch als Inhalt – und deshalb auch nicht als Verbindung beider – beschreiben lässt; es ist nicht mit den Kategorien des Zeichens zu erfassen.

Die Aporien des Zeichens, die das Gedicht sichtbar werden lässt, beträfen die Zeichentheorie nur am Rande, wenn dem Gedicht lediglich eine ästhetische Rolle innerhalb der Sprache zukäme. Doch für Meschonnic erschöpft sich die Spezifik des Gedichts nicht in einer ästhetischen Funktion: Im Gedicht (und in der Dichtung insgesamt, also auch in Erzähl- oder Dramentexten) realisiert sich ein Sprechen, das mit einer maximalen Subjektivität aufgeladen ist. Im Gedicht wird ein mit Körperlichkeit, konkreter Geschichtlichkeit, individuellen Gedanken und Gefühlen aufgeladenes Sprechen erfahrbar. Damit zeigt sich in der Dichtung etwas mit besonderer Intensität, das prinizipiell überall in der Sprache, in jedem Sprechen und noch in der alleralltäglichsten Äußerung wirksam ist, das aber immer wieder, wenn über Sprache nachgedacht wird, aus dem Blick gerät – das Subjekt in seiner Geschichtlichkeit, seiner Jedesmaligkeit (ein Begriff Humboldts), seiner Individualität. Meschonnic schreibt dazu in Critique du rythme:

Die Dichtung hat in einer historischen Anthropologie der Sprache keine ästhetische Rolle mehr. Sie ist eine Sprachaktivität, ein Bedeutungsmodus, in dem mehr als in allen anderen zu Tage tritt, dass das, was bei der Sprache, bei der Geschichtlichkeit der Sprache, auf dem Spiel steht, das Subjekt ist, das empirische Subjekt als Funktion aller Individuen, […]. Die Dichtung bewirkt ein Zu-Tage-treten des Subjekts. („Elle est une activité de langage, un mode de signifier qui expose plus que tous les autres que l’enjeu du langage, de son historicité, est le sujet, le sujet empirique comme fonction de tous les individus. Elle fait une exposition du sujet.“ Meschonnic 1982, 35)

Dieses Subjekt muss überall dort aus dem Blick geraten, wo die Sprache in den Kategorien des Zeichens gedacht wird. Dies wird unmittelbar deutlich, wenn man sich auf ein Gedankenexperiment einlässt, das Ludwig Wittgenstein in seinen „Philosophischen Untersuchungen“ angestellt hat. Dabei stehen die Schachteln für die Wörter der Sprache, die Käfer für die privaten Vorstellungen, die nach dem Zeichenprinzip mit den Wörtern verbunden werden, so dass diese eine Bedeutung erhalten:

Angenommen, es hätte jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir »Käfer« nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schauen; und jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, daß jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte. – Aber wenn nun das Wort »Käfer« dieser Leute doch einen Gebrauch hätte? – So wäre er nicht der der Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein. – Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann »gekürzt werden«; es hebt sich weg, was immer es ist. (Wittgenstein 1952, 157)

Wittgenstein verdeutlicht die Grenzen des Zeichendenkens, indem er nachweist, dass das Prinzip des Zeichens nicht die Grundlage der Sprache sein kann. Wenn die Funktionsweise der Sprache auf außersprachlichen Vorstellungen beruhen würde, so könnten die Wörter keine feste, überprüfbare Bedeutung haben, denn diese Vorstellungen würden ja bei jedem unter Umständen etwas vollkommen anders sein oder sogar ganz fehlen, ohne dass dies feststellbar wäre. Ihre Außersprachlichkeit und Privatheit macht sie zu metaphysischen Annahmen. Das bedeutet aber auch, dass es – wenn man vom Zeichendenken ausgeht – ganz unmöglich ist, mit der Sprache eigene Gefühle, individuelle Erlebnisse oder Vorstellungen zu thematisieren, da jeder Hörer die Wörter dann eventuell oder sogar notwendigerweise mit vollkommen anderen inneren, außersprachlichen, privaten mentalen Zuständen verbindet. Damit bleibt im Zeichenmodell das Subjekt durch die Sprache unwiderruflich getrennt vom Anderen und das heißt letztlich auch von sich selbst.

Sprechen kann also im Zeichenmodell nur heißen: den Konventionen der Sprache folgen, um zu kommunizieren (oder um zu glauben, dass man kommuniziere). Das Subjekt kommt somit nur als ausführendes Organ der Sprache in den Blick. Das anthropologische Paradox der Zeichentheorie liegt genau in dieser Ausgrenzung des Subjekts aus der Sprache. Ein Paradox deshalb, weil die empirische Funktionsweise der Sprache, nicht nur im Gedicht, die Intersubjektivität der Sprache, die Möglichkeit der Individuation durch Sprache und die Erfahrbarkeit von Gefühlen, Gedanken und Vorstellungen des Gegenübers durch dessen Rede in jedem Äußerungsakt realisiert. Die Subjektivierung als unaufhörliche Verwandlung des Geschichtlichen und des Kulturellen, die ein Spezifikum des Menschen sind, ereignen sich in der Sprache und durch sie. Schließlich haben nicht nur Völker ihre eigenen Sprachen und definieren sich über sie, sondern auch jeder Mensch hat seine eigene Sprechweise, an der wir ihn erkennen und die sich mit ihm verändert. Es ist daher bezeichnend, dass sich gerade Wilhelm von Humboldt entschieden gegen die Vorstellung gewandt hat, „dass die Sprache durch Konvention entstanden, und das Wort nichts als Zeichen einer unabhängig von ihm vorhandenen Sache, oder eines ebensolchen Begriffs ist.“ (Humboldt 1806, 7). Denn mit Humboldt beginnt ein Sprachdenken, das die Wechselwirkungen zwischen Sprache und Kultur, Sprache und Subjekt, Sprache und Literatur entdeckt. Meschonnic führt dieses Projekt unter anderen Voraussetzungen fort. Sein Aufsatz „Humboldt heute denken“ (1995) endet mit den Worten:

Der bemerkenswerte Effekt einer Modernität der Modernität ist, daß gerade ausgehend von Kunst und Literatur eine bislang abwesende Tradition beginnen kann, eine Tradition Humboldts, ein humboldtsches Denken. Und dass eine Kritik des Zeichens möglich ist, wie sie vorher nicht möglich war. Aus einer ganzen Reihe von Gründen wie etwa den Transformationen im Verhältnis zwischen Identität und Alterität, dem Erscheinen des Begriffs »Diskurs« [im Sinne Benvenistes], den Transformationen des Sagens, des Sehens, des Fühlens, des Denkens in diesem Jahrhundert, die einen neuen Begriff der Oralität, des Rhythmus, der Sprache möglich machen. (Meschonnic 1995, 86)

Eine Kritik des Zeichens ist notwendig, um die Verbindungen, Übergänge, Kontinuitäten des Sprachlichen denken zu können, also um Fragen etwa nach der Körperlichkeit im Dramentext, nach der Pluralität der Mündlichkeiten in der Literatur oder allgemein nach den Beziehungen zwischen Emotion und Sprache, Wahrnehmung und Sprache etc. anders stellen zu können, als dies bislang der Fall war. Nur so kann das in den Blick kommen, was das Zeichen ausblendet: Rhythmus, Gestus, Perspektivität, Oralität, Geschichtlichkeit und Subjektivität in der Sprache. Damit leistet die Kritik des Zeichens einen grundlegenden Beitrag zur Entwicklung einer historischen Anthropologie der Sprache.

Hans Lösener, 2012

Literatur

Humboldt, Wilhelm von (1806): Über die Natur der Sprache im allgemeinen. Aus: Latium und Hellas. In: Michael Böhler (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Schriften zur Sprache. Stuttgart: Reclam 1973.

Meschonnic, Henri (1975): Le signe et le poème. Paris: Editions Gallimard.

Meschonnic, Henri (1982): Critique du rythme. Anthropologie historique du langage. Paris: Editions Verdier.

Meschonnic, Henri (1995): Humboldt heute denken. In: Jürgen Trabant (Hg.): Sprache denken. Positionen aktueller Sprachphilosophie. Frankfurt am Main: Fischer. S. 67–89.

Wittgenstein, Ludwig (1952): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.