Von seinen ersten Veröffentlichungen an lässt sich in den Arbeiten von Henri Meschonnics eine enge Verknüpfung von Theorie und Praxis beobachten. Sein Projekt einer historischen Anthropologie der Sprache, so der Untertitel eines seiner Hauptwerke, der 1982 erschienenen Critique du rythme, resultiert einerseits aus der kritischen Auseinandersetzung mit der Sprach- und Literaturtheorie des 20. Jh. und den bis zu Platon und den Vorsokratikern reichenden sprachphilosophischen Traditionen des abendländischen Denkens und anderseits beruht sein Sprachdenken auf der doppelten, lebenslangen Praxis des Übersetzens und des Dichtens hervor. Diese grundlegende Dynamik zwischen Theorie und Praxis, aus der sich Meschonnics Werk speist und die die Lektüre seiner Bücher mitunter erschwert, weil sie sie voraussetzt, spiegelt sich auch in der Chronologie seiner Publikationen wieder. 1970 erscheinen gleichzeitig sowohl Pour la poétique, seine kritische Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Literaturtheorie, als auch Les Cinq Rouleaux, Meschonnics Übersetzung des Hohelieds, der Klagelieder Jeremias und der biblischen Bücher Ruth, Kohelet bzw. der Prediger Salomo und Esther. Hier entdeckt Meschonnic die Funktionsweise der rhythmischen Gestaltung der Sprache für das Sinnmachen des Textes, da er, übrigens als erster in der Geschichte der Bibelübersetzung, die Texte aus dem masoretischen Urtext mit ihrer für den Vortrag gedachten Akzentnotation übersetzt. Zwei Jahre darauf erhält sein Gedichtband Dédicaces proverbes den renommierten Prix Max Jacob und im folgenden Jahr, 1973, erscheinen zwei weitere Bände von Pour la poétique. Im ersten Band wendet er sich den sprachtheoretischen und ideologischen Prämissen verschiedener Bibelübersetzungen zu, während der zweite Studien zur Poetik Nervals, Apollinaires u.a. enthält ist und mit einer für Meschonnnics textanalytische Methodik wegweisenden Analyse zu Baudelaires Chant d’automne abschließt. 1975 publiziert er Le signe et le poème, eine Untersuchung zur abendländischen Geschichte der Zeichentheorie in der Sprachphilosophie, der Semiotik, der Psychoanalyse, im Marxismus, der Phänomenologie und in den postrukturalistischen Theorien (Lacan, Derrida). Wer verstehen will, worin die sprachtheoretische Aktualität von Meschonnics Sprachdenken liegt, dem sei dieses Werk empfohlen. 1976 kommt dann der Gedichtband Dans nos recommencements heraus und 1977 Pour la poétique IV, eine große zwei Bände umfassende Untersuchung zum Gesamtwerk Victor Hugos, die der Entwicklung von Hugos Poetik von seinen allerersten Anfängen bis zu seinem Spätwerk nachgeht, den Zusammenhang zwischen seinem dichterischen und seinem erzählerischen Oeuvre aufzeigt und die Wechselwirkung zwischen Poetik, Politik und Ethik in Hugos Schreiben analysiert. Diese Arbeit gehört längst zu den Standwerken der Hugo-Forschung in Frankreich. 1979 erscheint neben dem Gedichtband Légendaire chaque jour der letzte Band der Reihe Pour la poétique, in dem sich Meschonnic u.a. mit Chomskys Humboldt-Rezeption auseinandersetzt. 1981 folgt dann Jona et le signifiant errant, eine Übersetzung des Buches Jona aus dem Hebräischen, und 1982, Critique du rythme. Anthropologie historique du langage, seine siebenhundert Seiten starke Grundlegung seiner Rhythmustheorie, in der er – gegen alle postmodernen Moden und Strömungen der Zeit – zeigt, wie sich die Subjektivierung der Sprache in der jedesmaligen rhythmischen Individuation der Rede ereignet – und wie diese sich in der gesprochenen und vor allem in der geschriebenen Sprache beschreiben lässt. Der Rhythmus wird so zum Ausgangspunkt einer Sprachanthropologie, die Subjekt und Sinn von der Jedesmaligkeit der Rede her denkt (statt sie in die Transzendenz des Vor- und Außersprachlichen zu verlegen, wie dies in der Sprachphilosophie, der Psychologie und der Semiotik immer wieder getan wird). So wie die vorangegangen Publikationen auf vielfältige Weise zu Critique du rythme hinführen, so findet diese ihrerseits ihre Fortsetzung in Les états de la poétique (1985), Modernité, modernité (1988), La Rime et la Vie (1990) und Politique du rythme, politique du sujet (1995). Meschonnics Gedichtband Voyageurs de la voix von 1985 erhält im folgenden Jahr den Prix Mallarmé. 1990 erscheint die Gedichtsammlung Nous le passage, ein Jahr später seine historische Untersuchung zu den impliziten Sprachtheorien der großen französischen Wörterbücher Des mots et des mondes. 1990 ist aber auch das Jahr, in dem Meschonnics Analyse des Heideggerschen Sprachrealismus Le langage Heidegger erscheint, ein Buch, von dem Jürgen Trabant in einem Gespräch mit mir meinte, dass es noch vor allen anderen ins Deutsche übersetzt werden müsste. Noch hat sich niemand dieser Herausforderung gestellt.
Ich breche an diesem Punkt die Übersicht über Meschonnics Arbeiten ab und nenne nur noch einige wenige Publikationen aus den letzten Jahren, die für das Verständnis von Meschonnics sprachtheoretischem Ansatz von besonderem Interesse sind. Da ist zum einen seine Grundlegung einer Poetik des Übersetzens (Poétique du traduire, 1999) und seine Bibelübersetzungen der Psalmen (2001) und der ersten vier Bücher Mose (2002 ff.), und zum anderen seine kritische Auseinandersetzung mit den Sprachideologien der Gegenwart Dans le bois de la langue, die noch zu seinen Lebzeiten 2008 herauskam. Noch vollenden konnte Meschonnic auch die große Studie Langage, histoire, une même theorie, an der er viele Jahrzehnte gearbeitet hat, und die nun posthum 2012 bei Verdier erschienen ist.
Ein solches Werk lässt sich nicht in einem Resümee zusammenfassen. Es kann nur durchwandert werden, lesend, verstehend und nicht-verstehend, aber mit Gewinn für diejenigen, die spüren und wissen, dass es bei der Sprachtheorie um den ganzen Menschen geht, um die Möglichkeit, den Menschen von der Sprache her zu denken, und die Sprache vom Menschen, d.h. von seiner Körperlichkeit her, von der unaufhörlichen Arbeit der Individuation und der konkreten Geschichtlichkeit des Subjekts. Ein solches Denken erscheint mir unverzichtbar in einer Zeit, die noch immer in so vielen unterschiedlichen Disziplinen (Psychologie, Kulturtheorie, Literaturtheorie, Linguistik, Philosophie etc.) von einer postmodernen Eliminierung des Subjekts ausgeht, welche ausdrücklich oder stillschweigend durch die selbstverständliche Reduzierung der Sprache auf die Struktur, das Zeichen und die Kommunikation legitimiert wird. Diese Selbstverständlichkeit stellen Meschonnics Bücher in Frage.
Hans Lösener, 2012