Das Zeichen ist mehr als ein Beschreibungsmodell für die Elemente der Sprache. Es liefert bestimmte Grundmuster für das abendländische Denken, die auch dort wirksam sind, wo die Sprache selbst nicht im Mittelpunkt der Reflexion zu stehen scheint. Henri Meschonnic spricht in diesem Zusammenhang von den „sechs Paradigmen des Zeichens“ (erstmals in Politique du rythme, 1995, 114 ff.), an denen der musterbildende Charakter der Zeichenlogik in unterschiedlichen Bereichen des Denkens sichtbar wird. Ich orientiere mich im Folgenden u.a. an Dans le bois de la langue (2008), wo Meschonnic die sechs Paradigmen nochmals thematisiert.
1. Das sprachliche Paradigma
Das sprachliche Paradigma spielt insofern eine besondere Rolle, als es das Muster für alle anderen Paradigmen liefert. Was diese verbindet, ist eine Logik, bei der jeweils ein Element die Rolle des Signifikats und eines die des Signifikanten spielt. Das Signifikat dominiert dabei den Signifikanten, so wie der Inhalt die Form dominiert, der lediglich eine dienende Trägerfunktion zukommt. Die Logik des Zeichens ist deshalb von einer charakteristischen Ambivalenz geprägt, bei der das Element, das die Funktion der Form übernimmt, gleichzeitig negiert und beibehalten wird:
„Die sechs Paradigmen folgen alle dem gleichen Prinzip: ein Element, das unterschlagen werden kann, unterschlagen und doch beibehalten wird, und ein Element, das, obwohl es nur einen Teil darstellt, symbolisch das Ganze vertritt.“ („Ces six paradigmes sont tous constitués selon une même homologie: un élément escamotable-escamoté et maintenu, et un élément qui, tout en n’ étant qu’ une partie, vaut symboliquement pour le tout.“ Meschonnic 2008, 207)
Das sprachliche Paradigma kennt viele Varianten, die bei der Beschreibung sprachlicher Gegebenheiten immer wieder anzutreffen sind, etwa die Unterscheidung von eigentlichem und uneigentlichem Sprachgebrauch, alltäglicher und literarischer Sprache oder zwischen Prosa und Poesie. Bei jedem dieser Begriffspaare vertritt das erste der beiden Glieder die eigentliche Sache, die Natur der Dinge, während das zweite als Ausnahme, Formalisierung oder als parasitäre Abweichung erscheint. Eine ziemlich groteske Variante dieses Paradigmas ist die an deutschen Hochschulen übliche Unterscheidung zwischen den Studienbereichen „Sprache“ und „Literatur“; so als wären die Probleme des Literarischen von den Fragen der Sprache in irgendeiner Weise zu trennen (und umgekehrt).
2. Das anthropologische Paradigma
Das anthropologische Paradigma im engeren Sinne, der traditionelle Gegensatz zwischen Körper und Seele, ist vielleicht die älteste der Dichotomien und hat vermutlich als Matrix für andere Paradigmen gedient, wie etwa für den Gegensatz zwischen Gefühl und Vernunft, zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen, zwischen dem Primitiven und dem Zivilisierten, zwischen Natur und Kultur. Aber das anthropologische Paradigma kann auf einen noch grundlegenderen Gegensatz zurückgeführt werden, Meschonnic schreibt dazu:
„Das anthropologische, immer dualistische Paradigma [beruht] auf dem Muster, das das Tote dem Lebendigen gegenüberstellt, die Sprache dem Leben, den allgemeinen Begriff der konkreten Einzelheit: »Das Wort Brot kann man nicht essen«, »Das Wort Hund bellt nicht«. Es entspricht dem Gegensatz zwischen dem Geschriebenen und dem Mündlichen, bei dem kein dritter Begriff denkbar ist, wie für den Gegensatz zwischen Vers und Prosa, entweder das eine oder das andere; oder bei der Polarisierung zwischen dem (toten oder tötenden) Buchstaben und dem Geist; zwischen dem Irrationalen und dem Rationalen.“ („le paradigme anthropologique, toujours dualiste, sur le modèle qui oppose le mort et le vivant, le langage et la vie, le mot générique abstrait et le particulier concret: »on ne mange pas le mot pain«, »le mot chien n’aboie pas«. C’est toute l’opposition entre l’écrit et l’oral: pas de troisième terme pensable, comme pour les vers et la prose, c’est ou l’un ou l’autre; c’est l’opposition entre la lettre (morte) ou qui tue et l’esprit; entre l’irrationnel et le rationnel.“ Ebd., 38)
Das anthropologische Paradigma schafft – wie die anderen Paradigmen auch – Wertungen, die kulturelle und gesellschaftliche Wirksamkeit zeigen. So lässt sich die Tradition des paulinischen Der-Buchstabe-tötet-Topos bis in die postmoderne Philosophie hinein verfolgen, etwa bei Bataille oder Agamben („Die Sprache ist folglich immer »toter Buchstabe«“, Agamben 2007, 175).
3. Das philosophische Paradigma
Das philosophische Paradigma trennt Sprache und Realität, indem es die Wörter den Dingen gegenüberstellt: Wenn die Sprache aus Zeichen besteht, die auf die Dinge, Gedanken und Ideen verweisen – gemäß der alten scholastischen Definition des Zeichens „aliquid stat pro aliquo“ – dann kann die Sprache nicht mehr sein als ein Substitut für die Wirklichkeit, also ein Ort, wo wir gerade von dieser getrennt bleiben. Folglich wird man durch die Sprache der Wirklichkeit, und somit dem Leben, entfremdet:
„Zum Beispiel bei Hegel durch den Begriff des Bewusstseins als Tod und Tötung der Dinge, im Gegensatz zu den Dingen selbst. Aufgrund der Absurdität einer Definition ex negativo: Das Zeichen als Abwesenheit der Sache. Ein Tisch ist nicht die Abwesenheit eines Stuhls. Es gibt die Welt der Wörter, aber sie bedeutet nicht die Abwesenheit der Welt, sondern eine Beziehung zu ihr.“ („Par exemple, chez Hegel, par la notion de conscience comme mort et meurtre des choses, opposée aux choses mêmes. Avec l’absurdité d’une définition logique négative: le signe comme absence d’une chaise. Il y a un monde des mots, qui n’est pas l’absence du monde. Mais un rapport.“ Ebd., 38)
In Friedrich Nietzsches berühmten Fragment „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ (1873) wird dieses Paradigma in all seinen Konsequenzen durchgespielt und gezeigt, wie die Trennung zwischen Wörtern und Dingen (Sprache und Welt) weitere Trennungen hervorbringt, etwa die Trennung des Bewusstseins von der Sprache, die Trennung zwischen Gefühl und Ausdruck oder die Trennung zwischen Ich und Du.
4. Das theologische Paradigma
Das theologische Paradigma stellt das „Alte Testament“ dem „Neuen Testament“ gegenüber und interpretiert ihr Verhältnis nach dem Schema des Zeichens: Das „Alte Testament“ fungiert als Signifikant für das „Neue Testament“, das den Platz des Signifikats einnimmt, denn das „Alte“ weist – gemäß der Logik der Präfiguration – auf den Sinn des „Neuen“. Die christliche Praxis der Bibelübersetzung legt diese Logik offen:
„Die Christen christianisieren. Das „Alte“ Testament wird vom Neuen her übersetzt. Das berühmteste Beispiel ist wahrscheinlich das aus Jesaja (VII, 14), wo die „junge Frau“, almáh, mit „jungem Mädchen“ übersetzt wurde, so als stände dort betuláh, „Jungfrau“, um zu suggerieren, dass Jesaja die unbefleckte Empfängnis prophezeit hätte.“ („Les chrétiens christianisent. L’»Ancien« Testament est traduit à travers le Nouveau. L’exemple le plus fameux est sans doute celui d’Isaïe (VII, 14) où la »jeune femme«, ‘alma a été traduit »jeune fille«, comme s’il y avait betoula, »vierge«, pour laisser entendre qu’Isaïe prophétisait L’Immaculée Conception.“ (Meschonnic 2001, 50).
Ein Paradigma, das auch gebräuchliche Bibelübersetzungen fortschreiben, wie die weitverbreitete „Einheitsübersetzung“ (1980) zeigt. Dort lautet die entsprechende Stelle: „[…] Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen […].“ (Einheitsübersetzung 1980,814). Eine Anmerkung legitimiert diese Übersetzung durch den Hinweis auf die Septuaginta und auf Matthäus I, 23. Die Übersetzung „junge Frau“ wird dagegen als bloße Deutungsvariante abgetan („das hebräische Wort almáh wird auch als »junge Frau« gedeutet“, ebd.). Das theologische Paradigma schafft eine Logik, in der das Christentum als Verus Israel erscheint. Es produziert so durch seine Philologie und seine Übersetzungspraxis den christlichen Antijudaismus, der noch immer nicht der Vergangenheit angehört.
5. Das soziale Paradigma
Das soziale Paradigma bringt das Individuum in einen Gegensatz zur Gesellschaft, wobei das Individuum die Rolle des Signifikanten erhält, denn es fungiert als bloßer Träger des gesellschaftlich vorgegebenen Sinns. In dieser Eigenschaft steht es vor einer wenig verlockenden Alternative: Entweder es erfüllt seine Rolle als Träger des Sinns der Gemeinschaft und verschmilzt mit dieser, dann bleibt es unsichtbar und gibt seinen individuellen Status preis, oder aber es tritt in Opposition zur Gemeinschaft und negiert den gesellschaftlichen Sinn, dann gewinnt es zwar individuelle Konturen, wird aber zugleich zur – gesellschaftlich – leeren Form.
„Das soziale Paradigma des Zeichens ist der Gegensatz von Individuum und Gemeinschaft in allen seinen Formen: von der romantischen Auffassung, die den (bürgerlichen) Künstler gegen seine eigeneKlasse stellt, bis hin zu den Theorien einiger zeitgenössischer Anthropologen wie Louis Dumont oder bestimmter Soziologen wie Maffesoli, bei denen Individuum und Individualismus, Individualismus und Hedonismus in die Atomisierung der westlichen Gesellschaft münden im Gegensatz zum (ein wenig idealisierten) Kommunitarismus primitiver Gesellschaften. Ein und dasselbe Nichtdenken des Subjekts.“ (Meschonnic 1997, 616).
Das soziale Paradigma verhindert so, die Interdependenz zwischen Gesellschaft und Subjekt zu denken, verstellt also den Blick auf die Tatsache, dass einerseits die Gesellschaft nur als Gesellschaft von Subjekten denkbar ist und dass sich andererseits die Individuation des Subjekts nur als Prozess in der Gesellschaft vollziehen kann. Diese Wechselbeziehung tritt in der Sprache besonders deutlich zutage, wo das Gemeinsame (die Einzelsprache) das Individuelle (den Äußerungsakt) erst ermöglicht und das Individuelle zugleich das Gemeinsame hervorbringt: Jede Redewendung, jede Kollokation und jeder Neologismus, die irgendwann der Einzelsprache zugerechnet werden, gehen aus individuellen Äußerungsakten einzelner Sprecher hervor.
6. Das politische Paradigma
Das politische Paradigma schließlich stellt die Minderheit der Mehrheit gegenüber, wie in Rousseaus Gesellschaftsvertrag, wo die Mehrheit zugleich das Ganze repräsentiert, nach dem Muster des Zeichens, welches den Signifikanten als bloße Form dem Signifikat unterordnet. Die symbolische Identifikation der Mehrheit mit dem Herrscher wird so zur Rechtfertigung für eine Minderheitenpolitik, die nur die Anpassung an die Masse zulässt. Meschonnic bezeichnet dieses Paradigma als eine „Aporie der Demokratie“ (2008, 63).
Die Paradigmen des Zeichendenkens sind stark, weil sie kulturell stark sind. Sie prägen bis heute gleichermaßen wissenschaftliche Erklärungsmodelle wie alltägliche Denkmuster und politische Diskurse. Aber ihre kulturelle Stärke kann nicht die Blindheit des Zeichenmodells gegenüber der allgegenwärtigen Empirie der sprachlichen Wechselwirkungen verdecken. Denn das Zeichen trennt unentwegt, was sich empirisch nicht trennen lässt und von dessen Zusammen- und Ineinanderwirken jeder Äußerungsakt Zeugnis ablegt: Sprache und Welterfahrung, Sprache und Körper, die Mündlichkeit im Geschriebenen und im Gesprochenen, das Individuum in der Gesellschaft und das Politische im Poetischen.
Die offensichtlichste Schwäche des Zeichenmodells liegt vielleicht in der Ausklammerung der Präsenz des Subjekts in der Sprache:
„In der Zeichentheorie ist das Sprachsystem primär und die Rede sekundär. Es kann gar nicht anders sein. Für sie ist die Rede ein Zeichengebrauch, eine Auswahlentscheidung, eine Reihung von Auswahlentscheidungen in dem präexistenten Zeichensytem.“ („Dans la théorie du signe, la langue est première, et le discours, second. Il ne peut pas en être autrement. Le discours y est un emploi des signes, un choix, une série de choix dans le système des signes préexistant.“ 1982, 70).
Das Subjekt wählt aus dem schon bestehenden Repertoire von Zeichen diejenigen aus, die es zu Übermittlung seiner Nachricht braucht. Es erfindet die Zeichen nicht, es gebraucht sie lediglich, ähnlich wie man einen Satz Schraubenschlüssel zum Lockern oder Anziehen verschieden großer Schrauben gebraucht. Von diesem instrumentalen Sprachbegriff her gesehen kann das Subjekt in der Sprache genauso wenig präsent sein wie in dem Schraubenschlüssel, den es benützt. Aber was im Falle des Werkzeugs eine schlichte Feststellung ist, führt in der Sprachtheorie zu einem grundlegenden und unauflöslichen Paradox, nämlich zum Ausschluss des Subjekts aus der Sprache, die es spricht und durch die es zugleich als Subjekt konstituiert wird. In der Zeichentheorie bleiben die sprechenden Subjekte immer außerhalb der Sprache; sie werden zum blinden Fleck der Sprache und damit zu einer subjektiven Illusion. Eine ganze Reihe von abendländischen Denkern von Nietzsche bis Lacan haben diese Entfremdung des Subjekts durch die Sprache beschrieben, kommentiert und phantasiert.
Doch die in der Zeichentheorie implizierte Entfremdung steht in krassem Widerspruch zu dem, was sich empirisch noch in den alltäglichsten Äußerungsakten beobachten lässt: Wer spricht, spricht immer auch seine Sprache, ist an seiner Sprache erkennbar und erkennt den anderen an dessen Sprache. Unsere Sprache ist nicht austauschbar, und sie ist uns so nah wie unser Körper. Sowenig wir zwischen uns und unserem Körper trennen können (außer im Rahmen einer metaphysischen Spekulation), sowenig können wir zwischen uns und unserer Sprache eine Trennlinie ziehen. Das bedeutet nicht, dass es nicht auch Formen der Entfremdung zwischen Ich und Sprache geben kann, aber sie sind pathologisch, wie etwa im Fall einer Schizophrenie, und dort, wo sie sich ereignen, zerbricht nicht nur das Subjekt, sondern es bleiben auch von der Sprache nur noch Bruchstücke übrig. Die Pathologie zeigt, was das normale Funktionieren der Sprache voraussetzt: die unaufhebbare Interdependenz und Interaktion von Sprache, Wirklichkeit und Ich.
Hans Lösener, 2012
(Überarbeiteter Textauszug aus: Hans Lösener (2006): Zwischen Wort und Wort. Interpretation und Textanalyse. Paderborn: Fink. S. 86-90)
Literatur
Agamben, Giorgio (2007): Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität. Franfurt am Main: Suhrkamp. [ital. Erstauflage 1982]
Einheitsübersetzung (1980): Die Bibel. Altes und Neues Testament. Herausgegeben im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, Luxemburgs, Lüttichs und Bozen-Brixens. Herder: Freiburg im Breisgau.
Meschonnic, Henri (1982): Critique du rythme. Anthropologie historique du langage. Paris: Éditions Verdier.
Meschonnic, Henri (1995): Politique du rythme, politique du sujet. Paris: Éditions Verdier.
Meschonnic, Henri (1997): Rhythmus. In: Wulf, Christoph (Hg., 1997): Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie. Weinheim: Beltz. S. 609–618.
Meschonnic, Henri (2001): L’utopie du Juif. Paris: Desclée de Brouwer.
Meschonnic, Henri (2008): Dans le bois de la langue. Paris: Éditions Laurence Teper.