Henri Meschonnic beginnt seine wissenschaftliche Publikationstätigkeit in den 1960er Jahren, in einer Zeit, in der der Strukturalismus die theoretischen Diskurse bestimmt und der Poststrukturalismus langsam auf sich aufmerksam macht. Früh setzt sich Meschonnic kritisch mit beiden Denkschulen auseinander und greift Themen auf, die sie in die Diskussion gebracht haben: insbesondere die Frage nach der Funktionsweise von Struktur und Zeichen für das menschliche Sprachvermögen, für die Literatur und für die Gesellschaft. Im Gegensatz zum Strukturalismus und Poststrukturalismus denkt Meschonnic die Sprache von der Poetik aus, vom Gedicht, in dem ein geschichtliches Subjekt erfahrbar wird, durch die Art und Weise, wie sich in ihm ein Sprechen in der Schrift artikuliert. Poetik, Rhythmus, Subjekt, System (nicht Struktur!) und Geschichtlichkeit sind zentrale Begriffe, die die Richtung seines Denkens von Anfang an bestimmen. Von diesem Ausgangspunkt aus entwickelt er eine Kritik der Gleichsetzung von Sprache und Zeichen und ihrer politischen, sozialen, theologischen und philosophischen Implikationen. Sie steht in der Kontinuität einer historischen Anthropologie der Sprache, die für Meschonnic bei Wilhelm von Humboldt, Ferdinand de Saussure, Émile Benveniste und anderen beginnt, aber noch nicht abgeschlossen ist und vielleicht unabschließbar bleiben muss. Denn wer über die Sprache nachdenkt, ist immer schon ein Teil von ihr und wer sich eine Vorstellung von ihr zu machen sucht, hat deshalb immer auch schon eine. Das bedeutet aber auch, wie Meschonnic betont, dass nicht nur die Sprache selbst, sondern auch unsere Vorstellungen von ihr überall in unserem Denken und Handeln wirksam sind: Was wir über uns denken, denken wir nicht nur in der Sprache, sondern auch innerhalb unserer Vorstellungen von Sprache. Jede Auffassung von Sprache hat daher gesellschaftliche, politische und ethische Konsequenzen. In Dans le bois de la langue, einem seiner letzten Bücher, 2008 erschienen, schreibt er, dass der Ausgangspunkt für die Sprachtheorie die einfache Erkenntnis ist, dass jedes Denken notwendigerweise ein Denken über die Sprache einschließe, eben weil es sich in ihr ereigne („La théorie du langage, c’est simple, elle part de la proposition que penser n’est pas penser si on ne pense pas le langage, parce que penser se fait dans et par le langage“, 25), und weil jedes Denken wesentlich von der Vorstellung beeinflusst sei, die man sich von der Sprache mache („Que toute pensée dépend de sa représentation du langage“, ebd.). Wenn es zutrifft, dass das, was über Kultur, Sprache, Geschichte, Gesellschaft gedacht wird, davon abhängt, welche Sprachauffassung dabei vorausgesetzt wird, kann das Denken die Frage „Was verstehen wir unter Sprache?“ nicht ausklammern. Jede Antwort darauf verlangt eine sprachtheoretische Anstrengung, da die Sprache aus den genannten Gründen kein uns intuitiv zugänglicher Gegenstand sein kann. Wir können nicht aus ihr heraustreten, um sie zu betrachten und sie nur dann zum Gegenstand einer Untersuchung machen, wenn wir uns selbst als deren Teil verstehen. Das aber bedeutet, dass jede Sprachtheorie, die diese Aufgabe ernst nimmt, die Arbeit an der Theorie der Gesellschaft, der Literatur, der Geschichte und der Kultur einschließt.
Immer wieder betont Meschonnic, dass die akademische Aufsplitterung der Einzelwissenschaften verhindert, dass diese Zusammenhänge in den Blick kommen („Les choses du langage, affaire de spécialistes; l’esthétique, à part, dans son formalisme logique, l’éthique, à part, dans sa propre abstraction; le politique, à part, dans dualisme et son cynisme.“, ebd. 26). Um die Trennung der Fachdisziplinen zu überwinden, reicht es seiner Meinung nach nicht aus, interdisziplinäre Forschungsprojekte – so sinnvoll und notwendig diese im Einzelfall auch sein mögen – anzustoßen und durchzuführen. Denn das Prinzip der Trennung ist, wenn es um Fragen der Sprache geht, kein institutionelles, sondern es resultiert aus der herrschenden Sprachauffassung, aus der Dominanz eines einzigen, wenn auch sehr alten Modells für die Funktionsweise der Sprache: dem Zeichenmodell. Es postuliert die Trennung zwischen einer Form- und einer Inhaltsseite, aus der viele weitere, für das abendländische Denken charakteristische Gegensatzpaare abgeleitet werden können, die Meschonnic nicht müde wird, aufzuzählen. Dazu gehört die Trennung zwischen Sprechen und Denken, Sprechen und Fühlen, Sprache und Subjekt, Sprache und Wirklichkeit, aber auch die stereotype Gegenüberstellung von Vernunft (Logos) und Gefühl, Kultur und Natur, männlichem und weiblichem Denken, Orient und Okzident etc.
Die Trennungen des Zeichens deanthropologisieren die Sprache, so eine zentrale These Meschonnics, indem sie einen Riss zwischen Mensch und Sprache, Denken und Sprache, Sprache und Gefühl postulieren, unabhängig von den vielfältigen empirischen Evidenzen für die Übergänge und Durchdringungen zwischen Sprache, Denken, Gefühl, Körper, Geschichtlichkeit und Kultur. Zu den berühmtesten Monumenten der Deanthropologisierung der Sprache durch das Zeichenprinzip gehört übrigens ein Text, auf den Meschonnic meines Wissens nirgends eingeht: Friedrich Nietzsches posthum erschienenes Fragment „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ (1872). Es endet nicht zufällig mit einem Bild des Verstummens. Bei Nietzsche trennt die Sprache die Menschen von den Dingen, von der Wirklichkeit, von ihrem Gegenüber und von sich selbst. Sie wird zu einem allmächtigen Entfremdungsmedium, aus dem es kein Entkommen gibt. Wobei nicht vergessen werden darf, dass diese eindrucksvolle Vision nicht die Funktionsweise der Sprache selbst beschreibt, sondern das, was passiert, wenn man sie vom Zeichen her zuendedenkt und nach ihren erkenntnistheoretischen Konsequenzen fragt. Die Postmoderne von Jacques Lacan, über Paul de Man bis Giorgio Agamben hat diese negative Anthropologie der Sprache ausbuchstabiert und rhetorisch phantasievoll weitergesponnen, auch was ihre politischen und ethischen Konsequenzen angeht.
An die Stelle der Trennungen des Zeichenprinzips (Sprache vs. Körper, Sprache vs. Denken, Sprache vs. Subjekt etc.) tritt bei Meschonnic ein Denken der Durchdringungen, Wechselwirkungen und Übergänge zwischen Sprachlichkeit und Körperlichkeit, Sprache und Subjektivität, Sprache und Kultur, Sprache und Dichtung, Dichtung und Politik. Um diese gegenseitigen Durchdringungen – Meschonnic spricht vom „continu dans le langage“ (Dans le bois de la langue 2008, 11) – wahrzunehmen und um sie beschreiben und reflektieren zu können, ist es zunächst notwendig, die Gleichsetzung zwischen Sprache und Zeichen zu überwinden und das Zeichenmodell als das zu erkennen, was es ist: ein Modell für die Sprache, eines, aber nicht das einzige. Die Sprache kann – wie alle anderen Aspekte der Wirklichkeit auch – auch ganz anders gedacht werden. Den empirischen Ausgangspunkt für eine solches Denken der Sprache findet Meschonnic wie gesagt in der Poetik, ganz konkret im Gedicht. Ausgerechnet im Gedicht, also in einer Sprachtätigkeit, die zwar eine kulturelle Universalie darstellt, die aber gleichzeitig, wenn es um das Denken der Sprache geht, marginalisiert wird, etwa wenn dem Gedicht bei Platon, aber auch später bei Kant oder Hegel, jede Bedeutung für die Erkenntnis abgesprochen wird. Meschonnic bricht mit dieser Tradition, indem er postuliert, dass dem Gedicht eine Schlüsselstellung für das Denken der Sprache zukommt („toute théorie du langage dépend de sa représentation de la poésie comme toute poésie dépend de sa représentation du langage“, ebd.). Sie ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass im Gedicht die Kontinuitäten zu Tage treten, die das Zeichendenken ausblenden muss. Jedes Gedicht legt die Funktionsweise der sprachlichen Subjektivität offen, indem es durch die rhythmische Gestaltung des Textes (Syntax, Wortwahl, Interpunktion, lautliche Echos, metaphorische und gedankliche Gliederung etc.) die Sprechtätigkeit eines Ichs im Text erfahrbar macht. So widerspricht das Gedicht – wenn es ein Gedicht ist und keine Bastelei aus Metrum und Reim – den Dualismen des Zeichens, indem es die Wechselwirkungen zwischen Sprechen und Sprache, Schrift und Rede, Stimme und Text, Körperlichkeit und Sprachlichkeit, Denken und Fühlen erfahrbar macht.
Aus diese Weise eröffnet Meschonnic eine neue Perspektive de Sprachdenkens. Sein Beitrag zu einer historischen Anthropologie der Sprache weist deshalb in eine völlig andere Richtung als Heideggers Essentialisierung der Sprache und der Dichtung, die, wie Meschonnic schon 1990 in Le langage Heidegger zeigt, zur Eliminierung des Subjekts und der Geschichtlichkeit und zur Akzeptanz nationalsozialistischer Denkmuster führt. Meschonnics Sprachdenken steht in einer anderen Tradition. Es geht ihm nicht um die Fortführung der totalisierenden Philosophien von Heidegger oder Hegel, sondern um die Anknüpfung an das Humboldtsche Projekt der Pluralität der Sprachen, Kulturen und Denkweisen. In Dans le bois de la langue heißt es:
„Das Kontinuum zu denken, das heißt folglich die Vielfalt, die Pluralität zu denken. In diesem Sinne gilt es, Humboldt zu denken, gegen Hegel. Das ist das Glück des Denkens, in jedem Augenblick, und die Bedingung, um frei zu sein.“ („Penser le continu, c’est donc penser la diversité, la pluralité. C’est en ce sens qu’il y à penser Humboldt, contre Hegel. C’est le bonheur de la pensée, à chaque instant, et la condition même pour être libre.“ Ebd., 27).
Humboldt gegen Hegel zu denken, das heißt die Vielfalt des Geschichtlichen, der Sprachen, des Sprechens, der Literaturen gegen die Ideologien der Einheit, der Wahrheit und des Ursprungs zu denken. Deshalb ist Sprachtheorie für Meschonnic eine ethische und politische Tätigkeit.
Hans Lösener, 2012