Archiv für den Monat: Oktober 2012

Sprachtheorie und Literaturunterricht

Es gibt wohl kaum ein Feld, das die Relevanz der Sprachtheorie für die sprachliche Praxis so unmittelbar zu Tage treten lässt wie der Deutschunterricht. Jedes Lernziel, jede methodisch-didaktische Entscheidung, jede Unterrichtsstunde und jeder Arbeitsauftrag beruhen auf meist implizit bleibenden sprachtheoretischen Prämissen, die bestimmte Denkwege, Arbeitsformen und Zielperspektiven ermöglichen oder aber ausschließen. Dass diese Prämissen innerhalb der didaktischen Reflexion kaum je einmal problematisiert werden, ist auch einer der Gründe dafür, dass an einigen Unterrichtspraktiken hartnäckig festgehalten wird, obwohl sich ihre didaktische Fragwürdigkeit längst erwiesen hat. Ein besonders anschauliches Beispiel für ein solches didaktisches Fossil ist die nach wie vor in allen Schulformen anzutreffende Form-Inhalt-Interpretation bei der Arbeit mit Gedichten. Der unten abrufbare Aufsatz ist 2009 in OBST (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie) erschienen und analyisert die sprachtheoretischen Annahmen und die didaktischen Diskurse, auf denen diese Interpretationspraxis beruht, und zeigt, wie Alternativen zur Form-Inhalt-Analyse entwickelt werden können. Ein didaktisches Gesamtkonzept für die Arbeit mit Gedichten jenseits der Form-Inhalt-Logik findet sich in dem gemeinsam mit Ulrike Siebauer von der Universität Regensburg verfassten Praxisband „hochform@lyrik“ (2011) .

Hans Lösener, 2012

Hans Lösener (2009) Gedichtanalyse als didaktisches Problem. Gibt es eine Alternative zur Form-Inhalt-Interpretation?

Die Origo der Subjektivität: ich, jetzt, hier bei Bühler und Benveniste

Das Werk von Emile Benveniste (1902-1976) ist noch immer beinahe unbekannt im deutschsprachigen Raum. Noch immer ist der zweite Band der Problèmes de linguistique générale nicht übersetzt, während die gravierenden Übersetzungsfehler des ersten Bandes offensichtlich unbemerkt geblieben sind. Die Tatsache, dass der bedeutendste französische Linguist des 20. Jh in Deutschland so gut wie nicht zur Kenntnis genommen wird, könnte als Indiz für eine bestimmte Tendenz innerhalb der Sprachwissenschaft aufgefasst werden. Wenn man bedenkt, dass Benveniste die Grundlagen für eine Linguistik der Rede geschaffen hat, in der erstmals die menschliche Subjektivität von der sprachlichen Funktionsweise her beschrieben und untersucht wird, was weder der Sprechakttheorie noch der Gesprächsanalyse gelungen ist, dann spricht die fehlende Rezeption seiner Arbeiten in Deutschland für eine erkenntnistheoretische Barriere gegenüber den Fragen, denen sich Benveniste stellt: Was ist Subjektivität in der Sprache? Wie artikuliert sie sich? Welchen Bezug gibt es zwischen Zeitlichkeit und Sprache? Wie funktionieren die Wörter „ich“, „jetzt“, „hier“? Welche Bezüge gibt es zwischen Sprache, Rede und Sinn? etc. Über die Gründe für das Vorhandensein dieser Barriere kann man nur spekulieren. Vielleicht liegt es an einer unzureichenden Überwindung der strukturalistischen Tradition oder an einer postmodernen Faszination für die Eliminierung des Subjekts in der Sprache. Vielleicht ist der Grund aber auch einfach die nach wie vor überwiegend unkritische Rezeption der Origo-Theorie des Psychologen Karl Bühler, der – so mag es auf den ersten Blick scheinen – auch eine Theorie der Subjektivität in der Sprache entwickelt hat. Tatsächlich besteht ein diametraler Gegensatz zwischen dem Ansatz von Bühler und von Benveniste. Denn Bühlers Konzeption setzt die Subjektivität als psychologische Entität bereits voraus, während Benveniste zeigt, wie sie sich durch die Sprachtätigkeit immer wieder neu konstituiert. Bühler setzt also immer schon voraus, was Benveniste als Teil der Funktionsweise der Rede entdecken und beschreiben kann. Der folgende Aufsatz geht diesem fundamentalen Unterschied nach und zeigt, welche Konsequenzen für die Erklärung der Funktionsweise der Wörter „ich“, „jetzt“ und „hier“ sich daraus ergeben.

Hans Lösener (2010): Die Origo der Subjektivität: ich, jetzt, hier bei Bühler und Benveniste