Die Schwächen des Zeichenmodells mögen unübersehbar sein, eine Alternative zur Zeichentheorie ergibt sich aus ihnen noch nicht. Es bleibt die Frage, ob sich die Funktionsweise und die semantische Dimension der Sprache überhaupt außerhalb des Zeichenmodells beschreiben lassen. Damit kommen wir zum Kern von Meschonnics Sprachtheorie und zu demjenigen Konzept, das für die Beschreibung von Leseprozessen jenseits der semiotischen Artikulation von zentraler Bedeutung ist. Meschonnic verdankt die Entdeckung dieses Konzepts seiner jahrzehntelangen Praxis des Übersetzens, vor allem seiner Arbeit im Feld der Bibelübersetzung. Letztere beginnt 1970 mit den Cinq Rouleaux, seinen Übertragungen des Hohelieds, der Klagelieder Jeremias und der Bücher Prediger und Esther, und reicht gegenwärtig [2004] bis zu Les Noms, seiner 2003 erschienen Übersetzung des 2. Buchs Mose. Begleitet wird diese Praxis von einer weitreichenden theoretischen Reflexion über grundlegende Fragen des Übersetzens und über spezielle Probleme der Bibelübersetzung. Wichtigste Station dieses Reflexionsprozesses ist sein Buch Poétique du traduire (1999), das den Zusammenhang von Theorie und Praxis der Übersetzungsarbeit und die Notwendigkeit einer poetischen Konzeption für diese anhand zahlreicher Beispiele verdeutlicht.
Am Anfang dieses langen, über mehrere Jahrzehnte reichenden Weges steht eine Entdeckung, die in der Geschichte der Bibelübertragung eine Zäsur markieren dürfte. Meschonnic stellte nämlich, wie er in der Einleitung zu den Cinq Rouleaux schreibt, fest, dass keine der bisherigen Bibelübersetzungen aus dem Hebräischen versucht hat, den Rhythmus des Originals, der durch ein abgestuftes und komplexes System von Akzenten (den „te’amim“) im massoretischen Urtext notiert ist und der den mündlichen und gesanglichen Vortrag der Texte regelt, mitzuübersetzen. Die Akzente im hebräischen Text, welche nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der im deutschen stark grammatikalisierten Interpunktion aufweisen und zahlreiche Nuancierungen erlauben, lassen sich in trennende und verbindende Akzentuierungen unterteilen; die verbindenden dienen der Bildung von Wortgruppen, die trennenden der Setzung kleinerer oder größerer Pausen zwischen den Wortgruppen und Versteilen. Es gibt ein berühmtes Beispiel, das die Bedeutung des Rhythmus für die Bibelübersetzung schlagartig verdeutlicht, die Übersetzung von Jesaja 40, 3, die bei Luther so lautet:
3 ES ist eine stimme eines Predigers in der wüsten / Bereitet dem HERRN den weg / macht auff dem gefilde ein ebene Ban vnserm Gott. (Luther 1974, II, 1228)
Die Stimme „in der wüsten“ erscheint hier – verstärkt durch den Genitiv-Zusatz „eines Predigers“, der übrigens im Urtext keine Entsprechung hat – als unmissverständliche Vorausdeutung auf Johannes den Täufer, während es im hebräischen Original schon aufgrund der rhythmischen Gliederung des Verses diese Assoziation nicht gibt. Denn dort steht der starke, trennende Akzent nicht nach bamidbar „in der Wüste“ (Luther markiert den syntaktischen Einschnitt durch die Virgel), sondern nach qol qore „eine Stimme ruft“. Die Wortgruppe „in der Wüste“ stellt also keine nähere Bestimmung der Stimme dar, sondern gehört bereits zur wörtlichen Rede. Meschonnic plädiert jedoch nicht für die bloß punktuelle Einbeziehung des Rhythmus zur Vermeidung von Fehlübersetzungen. Denn es geht ihm nicht allein um den Sinn der Verse, es geht ihm um die Art und Weise, wie der Text Sinn schafft, um seine spezifische Bedeutungsweise also, um seinen Rhythmus:
„Der Rhythmus modifiziert nicht nur den Sinn, selbst dort, wo der Sinn der Wörter scheinbar nicht verändert wird, er verwandelt die Bedeutungsweise. Was gesagt wird, ändert sich von Grund auf, je nachdem, ob man diesen Rhythmus und diese Bedeutungsweise berücksichtigt oder nicht.“ („Plus que le sens, et même là où le sens des mots apparemment n’est pas modifié, le rythme transforme le mode de signifier. Ce qui est dit change du tout au tout selon qu’on tient compte de ce rythme ou non, de la signifiance ou non.“ Meschonnic 1999, 102. Übersetzung wie in den folgenden Zitaten H.L.)
Deshalb versucht Meschonnic, auch die rhythmische Gliederung jedes Verses mitzuübersetzen, indem er die unterschiedlich starken Akzente und die aus ihnen resultierenden Zäsuren durch verschieden große Leerblöcke wiedergibt. Ein Beispiel aus den Klageliedern Jeremias (IV, 7) möge dies illustrieren [Die weißen Leerblöcke werden hier aus technischen Gründen durch „—“ markiert]:
Ses nobles étaient blancs ——- plus que neige
——- étaient clairs ——- plus que du lait
————————————- Étaient rouges de corps ——- plus
que des coraux ——— saphir ——- leur figure
(Meschonnic 1970, 117).
Die rhythmische Gliederung des Verses schafft eine Sprechbewegung, die von der semantischen Organisation nicht zu trennen ist. Denn die Zäsuren schaffen Gewichtungen innerhalb der Äußerung, sie bewirken, dass jeweils Bild und Gegenbild, also beide Glieder des Vergleichs, betont werden. Dieser Effekt geht etwa in der Traduction OEcuménique de la Bible aus dem Jahr 1975, wo der nicht an der Akzentnotation des Originals orientierte Zeilenumbruch lediglich eine Hervorhebung des Gegenbildes bewirkt, verloren:
Ses consacrés plus purs que la neige,
plus blancs que le lait,
plus roses de corps que le corail,
aux veines de saphir.(Zitiert in Meschonnic 1999, 186. In der Einheitsübersetzung lautet dieser Vers: „Ihre jungen Männer waren reiner als Schnee, / weißer als Milch, ihr Leib rosiger als Korallen, / saphirblau ihre Adern“ Einheitsübersetzung 1980, 936. Auch hier gibt der Virgelgebrauch die Gruppen- und Pausenbildung des hebräischen Originals nicht wieder.)
Und noch etwas unterscheidet die beiden Versionen – und auch dabei geht es um die rhythmische Gliederung des Verses, und zwar um die in der Traduction OEcuménique de la Bible unberücksichtigt gebliebenen phonematischen Beziehungen innerhalb des Verses. Denn die innere Logik der Vergleiche beruht im hebräischen Original auf phonematischen Echos, die Meschonnic mitübersetzt, so dass vier Echopaare aus je zwei Wörtern entstehen, die hier durch Unterstreichung hervorgehoben sind:
Ses nobles étaient blancs ——- plus que neige
——- étaient clairs ——- plus que du lait
————————————- Étaient rouges de corps ——- plus
que des coraux ——— saphir ——- leur figure
Meschonnic (1999, 187).
Die semantische Beziehung zwischen dem Substantiv „nobles“ und seinem Attribut „blancs“ wird phonematisch durch das Echo auf /bl/ realisiert, zwischen „claires“ und dem Vergleichsbild „lait“ durch das Echo auf /lε/, zwischen „corps“ und „coraux“ durch das Echo zwischen /kɔr/ und /kor/, und zwischen „saphir“ und „figure“ durch die Echos auf /fi/ und auf /r/. Bild und Gegenbild antworten wie im hebräischen Original phonematisch aufeinander und erhalten durch die Echobeziehungen ihr semantisches Gewicht. An diesem einfachen Beispiel lässt sich bereits ermessen, welche Konsequenzen die Berücksichtigung des Rhythmus beim Übersetzen der Bibel nach sich zieht. Das Hören auf den Rhythmus verändert die Übersetzungspraxis, wie umgekehrt auch die Übersetzungspraxis den Rhythmus verändert, oder genauer gesagt unsere Konzeption des Rhythmus. […]
(Leicht modifizierter Auszug aus: Hans Lösener (2006): Zwischen Wort und Wort. Interpretation und Textanalyse. Paderborn: Fink. S. 90-93)