Den Rhythmus entdecken

Die Sprache als Ansammlung von Zeichen mit je einer Ausdrucks- und einer Inhaltsseite: Man kann sich keine Vorstellung der Sprache denken, die statischer wäre und weniger dem entspräche, was sie zu beschreiben vorgibt. Denn das Zeichen verstellt den Zugang zur Sprache als Tätigkeit, die bei jedem Sprechen, neu und unvorhersehbar gestaltet wird, unvorhersehbar wie der nächsten Satz, den wir hören oder sprechen, lesen oder schreiben und dessen Sinn wir nicht kennen, bevor er nicht geäußert wurde. Um die Sprache von der Tätigkeit her zu denken, ist es notwendig, sie nicht mehr von der langue, also der Einzelsprache, her zu denken, sondern vom discours, d.h. von der Sprache als Rede. Meschonnic knüpft daher an Emile Benvenistes Untersuchungen zur Funktionsweise der Rede (frz. discours) an: „Was ich hier unternehme, ist nur möglich durch Benveniste und zielt nur darauf ab, ihn fortzuführen.“ („Ce que j’entreprends ici n’est possible que par Benveniste et ne vise qu’à le continuer.“ Meschonnic 1982, 45).

Emile Benveniste, den Tzvetan Todorov als den bedeutendsten französischen Sprachwissenschaftler des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat (Benveniste 2012) und dessen Werk in Deutschland auch unter Linguisten noch immer so gut wie unbekannt ist, unterscheidet zwischen der Domäne des Zeicheninventars und der Domäne der Sprache als Tätigkeit, indem er den Begriff der doppelten Bedeutungsweise einführt („double signifiance“, Benveniste 1969, 63). Auf diese Weise lässt sich die Sprache zum einen als Zeichensystem beschreiben, nämlich dann, wenn man nur die Ebene des Einzelsprachsystems, also der langue, berücksichtigt. Auf dieser Ebene ist die semiotische Bedeutungsweise (signifiance sémiotique) angesiedelt, bei der es um Funktionsweise der Sprache als Zeichensystem geht, um die Elemente und Kombinationsregeln, aus denen die Einzelsprache besteht. Zum anderen realisiert sich die Sprache aber auf der Ebene der Rede (discours), was etwas vollkommen anderes ist, denn nur hier gibt es eine semantische Bedeutungsweise (signifiance sémantique), welche ebensowenig aus der semiotischen abgeleitet werden kann, wie die tatsächlich geäußerten Sätze einer Sprache aus deren Wortschatz. Dieser Punkt ist für Benveniste entscheidend: Die Rede lässt sich nicht als bloße Anwendung der in dem Einzelsprachsystem vorgegebenen Möglichkeiten begreifen, sondern besitzt eine eigene sprachliche Realität, ihre Funktionsweise ist semantisch, nicht semiotisch, und deshalb bedarf sie auch einer eigenen Terminologie zu ihrer Beschreibung:

Tatsächlich bildet die Welt des Zeichens eine in sich abgeschlossene Welt. Vom Zeichen zum Satz gibt es keinen Übergang, weder durch syntagmatische Umformung, noch auf eine andere Weise. Sie sind durch einen Graben voneinander getrennt. Man muss daher zugeben, dass die Sprache zwei unterschiedliche Bereiche enthält, die jeweils ihre eigene Begrifflichkeit verlangen.“ („En réalité le monde du signe est clos. Du signe à la phrase il n’y a pas de transition, ni par syntagmation ni autrement. Un hiatus les sépare. Il faut dès lors admettre que la langue comporte deux domaines distincts, dont chacun demande son propre appareil conceptuel.“ Benveniste 1969, 65).

Wer die Gesetzmäßigkeiten der Einzelsprache zu beschreiben vermag, kann deshalb noch nicht die semantische Funktionsweise einer konkreten Rede erklären. Denn in der Rede ereignen sich sprachliche Prozesse, die es in der langue nicht gibt: Dazu gehört insbesondere der Sinn, die Referenz, die Situativität (Zeitlichkeit und Räumlichkeit) und die Performativität sprachlichen Handelns. Der Interdependenz von Äußerungsakt und Äußerungssubjekt kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu, denn sie ist die Voraussetzung für das, was man Subjektivität nennt. In jedem Sprechen verortet sich das Subjekt, zeitlich und räumlich im Hier und Jetzt der Rede. Es bezieht sich auf Gesagtes, auf sein Gegenüber, auf die „Welt“ und schafft durch diese Verknüpfungen das, was man „Sinn“ nennt. Sinn und Subjekt gehören deshalb untrennbar zusammen. Das eine kann nicht ohne das andere gedacht werden. Damit ist der Sinn keine semiotische Größe mehr, er wird zu einer Aktivität des Subjekts in der Rede. Die  Interdependenz zwischen Subjektivität und Sinn in der Sprache erklärt Henri Meschonnics Forderung nach einem Sprachdenken, das vom Rhythmus in der Rede ausgeht. Denn der der Rhythmus ist kein Zeichen, sondern eine Funktionsweise, die nur in der konkreten Rede fassbar wird, als Individuation der Sprache durch die Sprechbewegung eines Subjekts.

Meschonnic knüpft also direkt an Benvenistes Konzeption der Rede an, wenn er Sinn und Subjekt von der Funktionsweise der Rede her denkt. Er verdankt Benveniste aber auch eine etymologische Entdeckung, die den Begriff des Rhythmus selbst betrifft. Im Rahmen einer sprachgeschichtlichen Untersuchung war Benveniste aufgefallen dass, rhythmos im Griechischen keineswegs immer die Bedeutung ‚gleichmäßige Bewegung‘, ‚taktartiger Wechsel‘ hatte (Benveniste 1951). Noch in der ionischen Philosophie, etwa bei Heraklit oder Demokrit wurde rhythmos im Sinne von „vorübergehender Anordnung“, „augenblicklicher Konfiguration“ gebraucht. Erst mit Plato, der vom Rhythmus im Zusammenhang mit dem Tanz spricht, wird der Begriff dann in der Bedeutung regelmäßige Bewegung gebraucht und mit dem zahlenmäßig determinierten Metrum verbunden.

Meschonnics Bezugnahme auf die vorplatonische Bedeutung des Wortes rhythmos hat dies nichts von einer Nostalgie des Ursprungs. Es geht ihm im Gegenteil um die Geschichtlichkeit des Begriffs und die Erkenntnis, dass das, was man für die Natur der Sache halten könnte (Rhythmus = Metrum), tatsächlich lediglich eine Etappe in der Begriffsgeschichte darstellt. Nur wenn der Begriff aus seiner metrischen Tradition gelöst wird, wird man verstehen können, was er für die Beschreibung der Subjektivierung und der Individuation der Sprache in der Rede zu leisten vermag. Deshalb hat der Rhythmus bei Meschonnic nichts vom platonischen Rhythmus, er ist weder ein Takt, noch ein Wiederholungsmuster oder gar ein Versmaß. Vielmehr erweist er sich wie der Sinn und die Rede selbst als durch und durch geschichtlich, also als unvorhersehbar, jedesmalig, veränderlich, eben als momentane Sinngestaltung. Der Rhythmus ist die Bewegung des Sprechens auf allen Ebenen der Sprache, also auch die Bewegung des Sinns in der Rede, die Sinngestaltung durch den Sprecher im Augenblick des Sprechens:

Ausgehend von Benveniste, kann der Rhythmus nicht mehr eine Unterkategorie der Form sein. Er ist eine Gestaltung (Anordnung, Konfiguration) eines Ganzen. Wenn der Rhythmus in der Sprache ist, in einer Rede, dann ist er eine Gestaltung (Anordnung, Konfiguration) der Rede. Und da die Rede sich nicht von ihrem Sinn trennen lässt, lässt sich der Rhythmus nicht vom Sinn dieser Rede trennen. („A partir de Benveniste, le rythme peut ne plus être une souscatégorie de la forme. C’est une organisation (disposition, configuration) d’un ensemble. Si le rythme est dans le langage, dans un discours, il est une organisation (disposition, configuration) du discours. Et comme le discours n’est pas séparable de son sens, le rythme est inséparable du sens de ce discours.“ Meschonnic 1982, 70).

Doch dieser Sinn ist nicht mehr durch das Sprachsystem vorgegeben. Er entsteht bei jedem Sprechen neu, durch das Sprechen, durch den Sprecher. Er ist eine Tätigkeit, die Tätigkeit eines Subjekts, das sich in jedem Äußerungsakt neu artikuliert und in der Sprache manifestiert. Meschonnics Theorie des Rhythmus ist daher vor allem eine Theorie des Subjekts in der Sprache:

Wenn der Sinn eine Tätigkeit des Subjekts ist, wenn der Rhythmus eine Gestaltung des Sinns in der Rede ist, so ist der Rhythmus notwendigerweise eine Gestaltung oder Konfiguration des Subjekts in seiner Rede. Eine Theorie des Rhythmus in der Rede ist also notwendigerweise eine Theorie des Subjekts in der Sprache. („Si le sens est une activité du sujet, si le rythme est une organisation du sens dans le discours, le rythme est nécessairement une organisation ou configuration du sujet dans son discours. Une théorie du rythme dans le discours est donc une théorie du sujet dans le langage.“ Meschonnic 1982, 71).

Somit lässt sich der Rhythmus weder von der Rede selbst isolieren, noch als eine autonome Ebene innerhalb der Rede erfassen, denn für den Sinn, für die Ausrichtung des Sinns können alle Elemente der Rede bedeutsam sein. In Meschonnics Begriffsbestimmung des Rhythmus spielen daher sehr viele Aspekte der Sprachtätigkeit eine Rolle:

Ich definiere den Rhythmus in der Sprache als die Gestaltung von Merkmalen, durch die die Signifikanten, seien diese sprachlich oder (vor allem bei mündlicher Kommunikation) außersprachlich, eine spezifische Semantik hervorbringen, welche sich von der lexikalischen Bedeutung unterscheidet, und die ich die Bedeutungsweise [signifiance] nenne; damit sind diejenigen Werte gemeint, die einer und nur dieser einen Rede angehören. Diese Merkmale sind auf allen »Ebenen« der Sprache zu finden: auf der akzentischen, der prosodischen, der lexikalischen, der syntaktischen. Zusammen bilden sie eine Paradigmatik und eine Syntagmatik, die den Begriff der Ebene gerade auflösen. Im Gegensatz zur gängigen Reduzierung des »Sinns« auf das rein Lexikalische ist die gesamte Rede an der Bedeutungsweise beteiligt, sie ist in jedem Konsonanten enthalten, in jedem Vokal, in jeder Silbe, die in ihrer syntagmatischen und paradigmatischen Funktionsweise die Bildung von Reihen bewirkt. Somit sind die Signifikanten sowohl syntaktische als auch prosodische Einheiten. Der »Sinn« liegt nicht mehr – lexikalisch – in den Worten. […]. Der Rhythmus, der sowohl die Bedeutungsweise als auch die Bedeutung der Rede gestaltet, ist selbst die Gestaltung des Sinns in der Rede. Und da der Sinn die Aktivität des Äußerungssubjektes bildet, ist der Rhythmus die Gestaltung des Subjekts als Rede in und durch seine Rede. („Je définis le rythme dans le langage comme l’organisation des marques par lesquelles les signifiants, linguistiques et extralinguistiques (dans le cas de la communication orale surtout) produisent une sémantique spécifique, distincte du sens lexical, et que j’appelle la signifiance: c’est-à-dire les valeurs, propres un discours et un seul. Ces marques peuvent se situer à tous les »niveaux« du langage: accentuelles, prosodiques, lexicales, syntaxiques. Elles constituent ensemble une paradigmatique et une syntagmatique qui neutralisent précisément la notion de niveau. Contre la réduction courante du »sens« au lexical, la signifiance est de tout le discours, elle est dans chaque consonne, dans chaque voyelle qui, en tant que paradigmatique et syntagmatique, dégage des séries. Ainsi les signifiants sont autant syntaxiques que prosodiques. Le »sens« n’est plus dans les mots, lexicalement. […]. Organisant ensemble la signifiance et la signification du discours, le rythme est l’organisation même du sens dans le discours. Et le sens étant l’activité du sujet de l’énonciation, le rythme est l’organisation du sujet comme discours dans et par son discours.“ (Meschonnic 1982, 216).

Meschonnic hat seinen Rhythmusbegriff bei der Übertragung von Texten aus der hebräische Bibel ins Französische entwickelt. Ihm fiel dabei auf, dass bislang noch keine Bibelübersetzung versucht hatte, das althebräische Akzentsystem aus dem masoretischen Urtext, bei dem jeder Vers durch ein abgestuftes System von trennenden und verbindenden Akzenten gegliedert wird und das dazu dient, den mündlichen Vortrag zu notieren, mitzuübersetzen. Tatsächlich ist aber die Akzentuierung von zentraler Bedeutung für die semantische Organisation der Texte. Denn sie gewichtet den Sinn und schafft so die Sprechweise und damit den jeweiligen Rhythmus des Textes. Meschonnic versuchte daher, die unterschiedliche Stärke der Akzente durch verschieden große Leerblöcke zwischen den einzelnen Wortgruppen wiederzugeben. So lautet beispielsweise der erste Vers aus dem in der Lutherbibel als Prediger bezeichneten Buch bei Meschonnic:

Paroles       du Sage fils de David                      roi         dans Jerusalem

(Worte       des Weisen, Sohn Davids                     König       in Jerusalem.

Meschonnic 1970, 135).

Erst durch die rhythmische Segmentierung treten der betonungsreiche Sprechduktus und damit auch der feierliche Ankündigungscharakter des Verses hervor. In der deutschen Einheitsübersetzung, die die rhythmische Organisation vernachlässigt, erscheint der Vers dagegen wie eine zusammengestückelte Aufzählung ohne jeden Spannungsbogen:

Worte Kohelets, des Davidsohnes, der König in Jerusalem war

(Einheitsübersetzung 1980, 720).

Die rhythmische Organisation eines Textes lässt sich beschreiben, das hat Meschonnic in seinen Analysen zu Baudelaire, Hugo und anderen immer wieder gezeigt. Dass dies auch im Deutschen möglich ist, habe ich 1999 in „Der Rhythmus in der Rede“ und 2006 in „Zwischen Wort und Wort“ versucht nachzuweisen. Gleichwohl bleibt Meschonnics Theorie unabgeschlossen, denn die Forschungs- und Reflexionsfelder, die sie eröffnet, sind gegenwärtig noch unabsehbar. Was auch bedeutet, dass die Fragen, die sie aufwirft und die Perspektiven, die sie ermöglicht, weiter produktiv bleiben.

Hans Lösener, 2012

 

Literatur

Benveniste, Emile (1951): Der Begriff des »Rhythmus« und sein sprachlicher Ausdruck. In: Derselbe: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. Übersetzt von Wilhelm Bolle. München: List 1974 S. 363–373.

Benveniste, Emile (1969): Sémiologie de la langue. In: Derselbe: Problèmes de linguistique générale. Bd. II. Paris: Editions Gallimard, S. 43–66.

Benveniste, Emile (2012): Dernières leçons. Collège de france 1968 et 1969. Paris: Hautes Études (Ehess, Gallimard, Seuil).

Einheitsübersetzung (1980): Die Bibel, Altes und Neues Testament. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, Luxemburgs, Lüttchs und Bozen-Brixen, Lizenzausgabe, Freiburg im Breisgau.

Lösener, Hans (1999): Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus. Tübingen: Niemeyer.

Lösener, Hans (2006): Zwischen Wort und Wort. Interpretation und Textanalyse. Paderborn: Fink.

Meschonnic, Henri (1970b): Les Cinq Rouleaux (das Hohelied, das Buch Ruth, die Sprüche Salomos u.a., Übersetzungen aus dem Hebräischen). Paris: Editions Gallimard.

Meschonnic, Henri (1982): Critique du rythme. Anthropologie historique du langage. Paris: Editions Verdier.